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Politische EthikGlaube und Politik

Politik mit dem Smartphone

Die Einstellung heutiger Jugendlicher zu Politik und Parteien

„Die heutige Jugend ist politikverdrossen und gleichzeitig politisch angepasst“ - so lautet häufig der allgemeine Tenor in der Gesellschaft. Schlechte Ausbildungs- und Berufschancen, Wirtschaftskrisen, unsichere Zukunftsaussichten – all dies verleitet die meisten jungen Menschen nicht etwa dazu, sich in Parteien zu engagieren, zu demonstrieren oder gar die Systemfrage zu stellen. Während die Eltern und Großeltern in ihrer Jugend demonstrieren gegangen sind, lernen die Kinder lieber für die nächste Klausur oder spielen an ihrem Smartphone. Jugend = unpolitisch: kann man diese Gleichung so stehen lassen? Stimmt das wirklich?

In diesem „Newsletter“ werden wir zunächst analysieren, was politische Beteiligung überhaupt ist und ob bzw. wie diese heute funktioniert (oder eben auch nicht). Auf Grundlage der damit gestellten Diagnose widmen wir uns dann ausführlich der politischen Beteiligung Jugendlicher in Deutschland. Wie entstehen eigentlich politische Orientierungen und wie bringen Jugendliche diese Orientierungen in das öffentliche Leben ein? Schließlich machen wir uns darüber Gedanken, wie politische Beteiligung und christliche Jugendarbeit zusammenkommen können. Haben Christen eine politische Aufgabe?

I. Was ist überhaupt politische Beteiligung?

Seit beinahe siebzig Jahren leben wir in Deutschland in einer parlamentarischen Demokratie. Eine Demokratie welchen Zuschnitts auch immer zeichnet sich im Kern dadurch aus, dass sie verspricht, jedem, der in diesem politischen System lebt, eine Stimme zu geben.1Vgl. Rosa 2014 oder Rosa 2015. Ein demokratisches System lebt solange, wie es ihr gelingt, diese Stimme im politischen Raum hörbar werden zu lassen. Haben Bürger über längeren Zeitraum das Gefühl, dass ihre Interessen, ihre Vorlieben, ihre Nöte und Bedürfnisse im politischen Raum keine Resonanz mehr finden, kommt es zur Entfremdung – zuerst entfremden sich die Bürger von der politischen Klasse, im schlimmsten Fall wird die Demokratie selbst in Frage gestellt. 

Gleichzeitig haben wir nun schon die Hauptmerkmale politischer Beteiligung benannt. Sie bedeutet, dass Bürger2Und natürlich auch gesellschaftliche Gruppen und Institutionen. ihre Interessen, Vorlieben, Nöte und Bedürfnisse kommunizieren, dass es „Antwortstrukturen“ gibt, mit Hilfe derer ihnen begegnet werden kann.3Steinbrecher 2009, S. 15. Mit der Kommunikation von Interessen sollen, so die Idee der Demokratie, gesellschaftspolitische Prozesse angeregt, initiiert und gestaltet sowie bereits bestehende Strukturen hinterfragt und reflektiert werden.4De Nève 2013, S. 14. Natürlich ist diese Interessenkommunikation eine freiwillige Sache, niemand muss sich für seine Vorstellungen und Bedürfnisse einsetzen. Gleichzeitig ist ein demokratisches System darauf angewiesen, dass es eine Mindestanzahl von Bürgerinnen und Bürger gibt, die das Spiel mitspielen und ihre Interessen kommunizieren. 

Welche Möglichkeiten gibt es, „politisch mitspielen“?5Im Folgenden konzentrieren wir uns konsequent auf politische Beteiligungsformen und ignorieren den großen Bereich der sozialen Beteiligung. Soziales Engagement ist eine Form der Beteiligung, die insbesondere soziale Integration und Unterstützung zum Ziel hat und nicht – wie im Fall der politischen Beteiligung – die Beeinflussung politischer Entscheidungen. Vgl. dazu den Stand der fachlichen Diskussion bei Steinbrecher 2009, S. 27-29. Zuallererst, an Wahlen teilzunehmen indem man sich entweder für ein politisches Amt wählen lässt oder zumindest selbst wählen geht. Durch den Wettbewerb verschiedener politischer Parteien und Interessenverbände haben die Bürger die Möglichkeit, gemäß ihren Präferenzen und Bedürfnisse die Partei auszuwählen, die ihnen am ehesten verspricht, diese im politischen Raum zu vertreten und durchzusetzen. Selbstverständlich kann politische Beteiligung auch heißen, sich in einer Partei, einer Gewerkschaft oder einem Berufsverband aktiv einzubringen und dort mitzuarbeiten. Neben der Wahlbeteiligung und der Verbands- bzw. Parteiarbeit findet politische Beteiligung auch dort statt, wo Bürgerinitiativen gestartet oder politische Interessensgruppen gegründet werden, die ein spezielles Anliegen haben, welches die politischen Parteien vielleicht bisher nicht aufgenommen haben. Man spricht bei solchen eher informellen Gruppierungen häufig von „Neuen Sozialen Bewegungen“. 

Neben diesen  Beteiligungsformen gibt es eine Reihe weiterer Formen politischer Beteiligungsinstrumente.6De Nève 2013, S. 11. Sei es das Unterschreiben einer Online-Petition, der Boykott eines Bekleidungsunternehmens auf Grund kritischer Arbeitsbedingungen in den unternehmenseigenen Fabriken, die Teilnahme an einer Demonstration oder eine politische Äußerung in den diversen sozialen Netzwerken und Kanälen – die Bereitschaft zur politischen Beteiligung kann ganz unterschiedliche Formen und Gestalten annehmen. 

Wenn wir im Folgenden von politischer Beteiligung sprechen, soll es stets sowohl um die konventionellen (Wählen, Parteiarbeit, Bürgerinitiativen) als auch unkonventionellen (politischer Konsum, Demonstration, etc.) politischen Beteiligungsformen gehen. Dabei sind solche Beteiligungsformen abzugrenzen von Formen sozialen Engagements. Soziales Engagement ist im Gegensatz zu politischer Beteiligung nicht an die Beeinflussung politischer Entscheidungen geknüpft. Der Fokus liegt vielmehr darauf, im sportlichen, kulturellen oder sozialen Bereich aktiv zu sein, etwa in der Wohlfahrtspflege, im Rettungswesen oder im Umweltschutz.714. Kinder- und Jugendbericht 2013, S. 227. Ohne Zweifel geht politisches und soziales Engagement in der Praxis häufig Hand in Hand, ergänzt und beeinflusst einander.8Vgl. Steinbrecher 2009, S. 29. Für die folgenden Überlegungen wollen wir uns auf Grund der Komplexität des Sachverhalts allerdings auf Formen der dezidiert politischen Beteiligung konzentrieren. 

II. (Wie) funktioniert Demokratie in der Spätmoderne?

Im öffentlichen Bewusstsein sind die Begriffe „Politik“ und „Krise“ beinahe zu Synonymen geworden. Griechenland-Krise, Euro-Krise, Ukraine-Krise, die Krise im Nahen Osten – die Krise ist längst zum Normalzustand geworden. Doch scheint nicht nur die Weltpolitik im Dauerkrisenmodus zu stecken. Auch das nationale politische System wird meist krisenhaft wahrgenommen: Vom Vertrauensverlust in das politische System wird gesprochen, Politiker stecken in einer tiefen Image- und Legitimationskrise, allerorts wird Parteienverdrossenheit diagnostiziert. Sogar die Medien, die „vierte Gewalt“ im Staate, werden zunehmend kritisch beäugt und an den radikalen Rändern der Demokratie gar als „Lügenpresse“ beschimpft. 

Betrachten wir diese empfundene Krisenhaftigkeit der Politik etwas genauer, so können wir feststellen, dass sie zwei Seiten hat: zum einen wird den Politikern und Parteien vorgeworfen, sie hätten sich von den einfachen Menschen distanziert, würden ihnen nicht mehr zuhören, kümmerten sich nicht mehr um die Nöte und Interessen der Menschen. Zum anderen wird der Politik attestiert, sie habe eigentlich gar keinen wirklichen Einfluss mehr auf die Lebensumstände der Menschen, vielmehr sei es die Wirtschaft und das kapitalistische System, welches den Ton angeben würde. Politik, so wird geklagt, habe „als solche ihre Gestaltungsmacht verloren."9Rosa 2014. Es wird befürchtet, dass die Demokratie keine Kontrolle mehr über die komplexen Prozesse globaler Märkte und Verflechtungen hat.10Vgl. Davy 2013, S. 7f. Beide Seiten dieser Krise haben etwas mit gestörter Kommunikation zu tun. Einerseits scheint die Verbindung zur politischen Klasse gestört, andererseits ist die Beziehung und das Vertrauen zum politischen System selbst in die Krise geraten. Die Menschen erleben sich zunehmend als ohnmächtig und von politischen Prozessen abgekoppelt. Politische Entscheidungen werden als „alternativlos“ deklariert, die von den Bürgern kaum zu beeinflussen sind. 

Diese gestörte Verbindung hat gravierende Folgen für die Zukunft der Demokratie, denn diese kann nur funktionieren, wenn Menschen sich politisch engagieren. Julian Nida-Rümelin bringt das auf den Punkt: „Ohne Bürgergesellschaft, ohne Aktivität, ohne die Bereitschaft, sich trotz finanzieller Nachteile in Stadträte wählen zu lassen oder sich in Bürgerinitiativen zu engagieren, ohne die Bereitschaft, im Parlament Argumente jenseits der eigenen Vorteile abzuwägen, gibt es keine Demokratie."11Nida-Rümelin 2013, S. 25. Das Problem ist: Viele Bürger haben das Gefühl, dass sie durch politische Beteiligung nur noch wenig erreichen. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa kann man dabei von einem „Resonanzverlust“ sprechen. Das bedeutet, dass das demokratische System sein Grundversprechen, dass jeder eine Stimme hat, nicht mehr (vollständig) einlösen kann. Durch Abgabe der Stimme bei der Wahl und durch Mitarbeit in Parteien, Gewerkschaften oder Initiativen erfahren sich die Menschen als Schöpfer und Gestalter ihrer Welt.12Vgl. Rosa 2015. Denn eine der zentralen Grundideen der modernen Gesellschaft ist es, dass ihre Bürger selbst bestimmen dürfen, in welcher Gesellschaft sie leben wollen. Sie müssen sich nicht ausschließlich Regeln und Gesetzen unterwerfen, sondern können und sollen diese mitgestalten  und mitprägen.13Rosa 2012, S. 358. Diese Erfahrung, so Rosa, machen in der Spätmoderne immer weniger Menschen. 

Heute wirken demokratische Prozesse undynamisch und statisch, ja langsam. Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer oder internationaler Ebene hat man das Gefühl, die politischen Verfahren sind äußerst langwierig und laufen den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen nur hinterher. Politik, so konstatiert Rosa, erscheine nicht mehr als Schrittmacher sozialen Wandels, sondern als Feuerlöscher.14Rosa 2015b. Statt zu agieren, reagiert Politik nur noch und versucht, die unzähligen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder militärischen Krisen irgendwie zu kontrollieren. 

Wieso erscheint demokratische Politik heute so statisch? Hauptsächlich verantwortlich, so nochmal Hartmut Rosa, ist die Tatsache, dass sich die meisten Bereiche der Gesellschaft immer stärker beschleunigen. In der Finanzwelt handeln Supercomputer in Millisekunden mit Milliardenbeträgen, in der Wirtschaft wird die Produktivität immer weiter gesteigert, Arbeitsprozesse werden stets flexibler. Menschen streben danach, alle Möglichkeiten im Leben umfassend auszuschöpfen. Gleichzeitig verändern sich soziale Systeme und Milieus zunehmend stärker und schneller. Die Liste ließe sich problemlos weiterführen. Die Pointe dabei ist: Zwar können wir Güter, Kontakte und Optionen immer stärker vermehren, allerdings bleibt das zur Verfügung stehende Zeitvolumen dasselbe.15Vgl. Rosa 2015b. Wir müssen also immer mehr Prozesse und Tätigkeiten in dieselbe Zeitspanne packen, um am sozialen Leben teilhaben zu können. 

Dies gelingt im privaten Leben mal besser mal schlechter, Menschen fühlen sich trotz enormer Freiheiten im Bereich der Lebensführung und Moral ständig unter Druck.16Vgl. Newsletter Leistungsdruck. Unter Druck geraten durch diese stärkere Dynamisierung sind jedoch nicht nur die Menschen als einzelne Subjekte, sondern auch gesellschaftliche Teilbereiche, die bei der allgemeinen Beschleunigung nicht mithalten können – insbesondere die Politik. Während soziale Veränderungen, technologische Entwicklungen oder ökonomische und finanzielle Austauschprozesse sich scheinbar unbegrenzt beschleunigen lassen, brauchen demokratische Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung Zeit.17Rosa 2012, S. 364. Denn Demokratie bedeutet, dass Interessen und Probleme identifiziert werden, dass Argumente ausgetauscht werden, dass eine parlamentarische Demokratie verwaltet und stets rechtsstaatlich organisiert bleiben muss – all das sind äußerst zeitintensive Prozesse.18Rosa 2012, S. 365. Dies führt dazu, dass eine demokratische Kontrolle und Beherrschbarkeit vieler Bereiche des Lebens gar nicht mehr möglich erscheint.19Rosa 2012, S. 368. Die Politik reagiert mit einer „technokratische Exekutivpolitik"20Brunkhorst 2013, S. 55. der „Alternativlosigkeit“, hinter der das verzweifelte Bemühen steht, sich den ständig sich verändernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen und pragmatisch auf die vordringlichsten Anforderungen globalisierter Märkte und Verflechtungen zu reagieren.21Rosa 2012, S. 371. Für einen langwierigen, komplexen Prozess der Willensbildung, bei dem Bürger Argumente und Positionen austauschen, bleibt da keine Zeit.

Ein eindrückliches Beispiel dieser Zeitproblematik der jüngeren Vergangenheit war die Banken- und die darauf folgende Schuldenkrise. Offensichtlich stieß hier die Handlungsfähigkeit der Regierungen an ihre Grenzen.22Vgl. Habermas 2013, S. 143. So wurden etwa 2008 bei Ausbruch der Finanzkrise innerhalb weniger Tage weitreichende Entscheidungen getroffen (Euro-Rettungsschirm, etc.). Obwohl diese Maßnahmen „fundamentale politische Prinzipien berührten, wurden sie unter nahezu völliger Umgehung der Parlamente bzw. der Gesetzgebungsorgane getroffen, weil für den eigentlichen demokratischen Prozess keine Zeit blieb."23Rosa 2012, S. 369. Das beunruhigende Fazit dieser Vorgänge ist, dass Politik durchaus beschleunigungsfähig ist – falls sie auf langwierige demokratische Prozesse verzichtet.24Rosa 2012, S. 369. Nun wird plausibel, warum viele Menschen das Gefühl haben, dass ihre Stimme ungehört bleibt. Sie fühlen sich nicht nur selbst als Opfer, welches den Unwägbarkeiten einer globalisierten Gesellschaft passiv ausgeliefert ist, sondern sie identifizieren auch die Politik mit dieser Rolle. Sie trauen den politischen Entscheidungsträgern nicht zu, wirkliche Veränderungen herbeizuführen. Gleichzeitig scheinen Politiker auf Grund ständiger „alternativloser“ politischer Beschlüsse gar nicht mehr in der Lage, die Interessen der Wähler zu vertreten. Dies ist ein gewichtiger Grund für das weit verbreitete Empfinden, die politischen Entscheidungsträger würden die Belange und Nöte der Bürger nicht  ernstnehmen. Die Konsequenz lautet: Viele Menschen bleiben daher bei der Wahl zu Hause oder wählen Protestparteien, die ihnen einen Systemwechsel versprechen.25Rosa 2015a.

Wie verhalten sich junge Menschen zu den soeben beschriebenen Bedingungen?

III. Die politische Beteiligung Jugendlicher. Daten und Fakten

3.1. "Beteiligung" als jugendliche Entwicklungsaufgabe

Im Laufe der Adoleszenz werden von der Gesellschaft verschiedene Erwartungen an einen jungen Menschen herangetragen. Diese werden in der Jugendforschung als Entwicklungsaufgaben bezeichnet. Eine der wichtigsten ist die der Beteiligung.26Hurrelmann 2012, S. 28. Nach dem deutschen Jugendforscher Klaus Hurrelmann gehört zu dieser Entwicklungsaufgabe „der Aufbau von ethischen, moralischen wie auch politischen Werthaltungen und Orientierungen und das Einbringen dieser in das öffentliche Leben."27Hurrelmann 2012, S. 202.

Die Bedingungen dafür, sich als junger Mensch politisch zu orientieren und einzubringen, sind heute herausfordernd. Die oben beschriebene Entfremdung der Politik durch die strukturellen Zwänge der Spätmoderne ist auch bei jungen Menschen zu bemerken. Zudem stehen Jugendliche mächtig unter Druck: Auf die gesellschaftliche Unsicherheit und den ständigen Wandel reagieren sie mit verstärkten Bemühungen um Bildung und Leistung.28Vgl. Hurrelmann 2014, S. 118. Sie wollen sich die besten Startvoraussetzungen in einer Welt erarbeiten, in der nichts auf Dauer angelegt ist. Für Politik, so scheint es, haben Jugendliche einfach keine Zeit mehr.29Rauschenbach 2012, S. 137.

Gleichzeitig sind die Art des Protests und damit der Weg, wie frühere Generationen zur Politik kamen, für heutige Jugendliche meist kein Thema mehr. Die jüngste Shell-Studie konstatiert: „[D]as Suchen nach individuellen Aufstiegsmöglichkeiten im Verbund mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Beziehungen im persönlichen Nahbereich prägen diese Generation und grenzen sie damit auch von dem Protest- und Rebellionsimage ab, das in der Öffentlichkeit nach wie vor als Sinnbild für eine sogenannte Jugendbewegung gesehen wird."30Schneekloth 2010, S. 129. Die heutigen Jugendkulturen sind keine politischen Protestkulturen, sondern in erster Linie Freizeitkulturen.31Heinzlmaier 2013, S. 120.

Doch wenn Jugendliche heute kaum noch Zeit haben und sie kaum ein Bedürfnis zum politischen Protest verspüren, welche Haltung nehmen junge Menschen heute zur Demokratie, zur Politik und zu den politischen Akteuren ein? Wer engagiert sich und warum? Welche Jugendmilieus haben nach eigener Aussage nichts mit Politik am Hut?

3.2. Demokratie

Trotz der Legitimationsschwierigkeiten, mit denen Politik demokratischen Zuschnitts in der Spätmoderne zu kämpfen hat, sind laut der jüngsten Shell-Studie aus dem Jahr 2010 63% der 15-25-Jährigen in Deutschland mit der Demokratie in Deutschland zufrieden.32Zum folgenden Schneekloth 2010, S. 136-142. Jugendliche mit (angestrebtem) Abitur sind dabei mit 68% im Schnitt etwas zufriedener als Jugendliche mit (angestrebter) mittlerer Reife (61%) und Jugendlichen mit (angestrebtem) Hauptschulabschluss (57%). Jugendliche ohne Arbeit (44%) sowie Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss (52%) weisen den niedrigsten Zufriedenheitswert auf, was sicher den persönlichen Lebensumständen geschuldet ist. Dagegen sind Studierende mit 71% die Gruppe junger Menschen mit der höchsten Zufriedenheit. Diese relativ hohen Zahlen werden in der Shell-Studie durch Antwort auf die Frage gestützt, ob Demokratie eine gute Staatsform sei. Hier befürworten 83% die Demokratie als gute Staatsform und nur 9% bewerten sie als „nicht so gute Staatsform“, 8% machen keine Angabe. Insgesamt, so scheint es, ist das Verhältnis zur Demokratie trotz aller vorhandenen Kritik an gesellschaftlichen Zuständen durch die jugendlichen Milieus hinweg positiv. Dies wird schließlich auch dort deutlich, wo nach dem Vertrauen in gesellschaftliche Gruppierungen und Institutionen gefragt wurde. Hier erhalten staatliche Institutionen wie „Polizei“ (3,5)33Skala von 1 = sehr wenig Vertrauen bis 5 = sehr viel Vertrauen. und „Gerichte“ (3,4) einen sehr hohen Vertrauenswert, am unteren Ende der Skala rangieren Parteien (2,5) und Banken (2,5). 

3.3. Interesse an Parteien und Politikern

Mit den zuletzt genannten niedrigen Vertrauenswerten für Parteien und Banken sind wir schon bei der Haltung junger Menschen gegenüber der Politik und den politischen Akteuren selbst.34Zum folgenden Schneekloth 2010, S. 142-151. Den soliden Werten zum Thema Demokratie steht ein Verlust an Vertrauen gegenüber den Parteien und ihren Vertretern gegenüber. Nur 6% der 12-25-Jährigen sind stark an Politik interessiert, 30% bezeichnen sich als interessiert, fast zwei Drittel (63%) sind nach eigenen Angaben wenig oder gar nicht interessiert. Dies spiegelt sich unter anderem auch in der Wahlbeteiligung wieder. Während sie bei der Bundestagswahl 2009 insgesamt bei 71,4% lag, gingen nur 63% der 18-20-Jährigen und 59,1% der 21-24-Jährigen zur Wahl. Damit sank die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2005 bei den 18-24-Jährigen etwa um 7 Prozentpunkte. 52% der Jugendlichen findet zudem politisches Engagement für sich persönlich unwichtig (wichtig: 23%, mal so, mal so: 24%). Sich in die Politik einzumischen ist bei 24% der Jugendlichen „in“ und bei 71% „out“. In den 1980er Jahren waren noch etwa 3% der Jugendlichen Mitglied in einer Partei, heute sind es etwa noch 1%.35Hurrelmann 2014, S. 132. Zwar können sich laut Shell-Studie 17% vorstellen, mal in einer Partei oder politischen Gruppe mitzuarbeiten, doch nur die allerwenigsten tun dies auch. Am ehesten sind noch solche Jugendliche in Parteien oder der lokalen Politik aktiv, die in ihren Familien eine lebendige Auseinandersetzung mit politischen Themen erleben.36Böhm-Kasper 2006, S. 74. Diese Familien sind am ehesten im sozialökologischen oder konservativ-bürgerlichen Milieu zu finden, während Jugendliche aus bildungsfernen Milieus familiär so gut wie keine politischen Berührungspunkte haben.37Calmbach 2011, S. 74.

Versteht man unter „politisch sein“ die Bereiche „zur Wahl gehen“, „Interesse an althergebrachter Politik und politischem Personal zeigen“, „sich in einer Partei engagieren“ oder „sich für aktuelle politische Diskussionen zu interessieren“, so „können die wenigsten Jugendlichen als politisch im engeren Sinne verstanden werden."38Calmbach 2011, S. 73f. Politik spielt im Leben junger Menschen quasi keine Rolle: Sie gehört „neben Kunst und Kultur sowie Religion zu den am wenigsten bedeutsamen Lebensbereichen für junge Menschen."39Gaiser 2013, S. 13. Mit dem Erscheinungsbild von Parteien und Politikern können nur die wenigsten Jugendlichen etwas anfangen. Sie seien „leidenschaftslos“, so die Sinus-Jugendmilieustudie, „was Politik betrifft. [Die junge Generation] wägt pragmatisch ab, in welche Themen Zeit investiert werden soll. Scheint das Thema keinen Bezug zum Alltag zu haben oder völlig außerhalb eigener Einflussmöglichkeiten zu liegen, sieht man keinen Grund, warum man sich damit beschäftigen sollte (z.B. Finanzkrise)."40Calmbach 2011, S. 72. Die meisten Jugendlichen glauben nicht, dass ihre Beteiligung an Politik etwas bewirken könnte. Das bedeutet, dass sie im Allgemeinen den Glauben an die Gestaltungsmacht der Politik und politischer Verfahren verloren haben bzw. nie hatten: Sie glauben nicht, dass sie innerhalb des real existierenden politischen Systems die Zukunft für ihre Generation gestalten können."41Hurrelmann 2014, S. 133. Politik wirkt für Jugendliche wie ein stummer, abweisender und fremder Raum, der ihnen nichts zu sagen hat. 

3.4. Jugendliche sind anders politisch

Trotz der Zahlen und dem tiefen Eindruck der Jugendlichen, dass das, was in politischen Talkshows diskutiert wird, mit ihrem Alltag absolut nichts zu tun hat, meint Politikstudentin Leonie: „Ich tue mich immer schwer damit, zu sagen, wir seien eine unpolitische Generation."42Hurrelmann 2014, S. 122. Jugendliche und junge Erwachsene definierten Politik deutlich enger als andere Generationen vor ihr. „Politik“ werde auf das reduziert, was in der „Tagesschau“ als solche verkauft werde. Bewusstes Konsumverhalten oder Engagement für Flüchtlinge wird bei Jugendlichen erst einmal nicht unter politischer Beteiligung verbucht. Auch die Sinus-Jugendmilieustudie beobachtet dieses Phänomen: „Fasst man den Politikbegriff weiter, sind Jugendliche keineswegs politikfern."43Calmbach 2011, S. 74. Wenn Jugendliche Ungerechtigkeit oder Diskriminierung in der Gesellschaft oder in konkreten Situationen kritisierten oder sich für Schwächere in ihrem Umfeld einsetzten, wüssten sie gar nicht, dass sie sich durchaus politisch äußern bzw. politisch handeln. Jugendliche kommunizieren ihre Interessen, ihre Wünsche und Bedürfnisse, doch – und das ist der entscheidende Punkt – geschieht dies auf eine Art und Weise, die mit klassischen politischen Beteiligungsformen wenig zu tun hat. 

Um zu entdecken, an welchen Orten und in welchen Situationen junge Menschen politisch kommunizieren und handeln, lohnt es sich die Frage zu stellen, aus welcher Motivation heraus sie das tun. Jugendliche sind als Pragmatiker nicht mehr wie ihre Eltern- und Großeltern von gesellschaftlichen Visionen und Utopien getrieben, die es zu verwirklichen gelte. Große Ideen zur Weltverbesserung spielen in den Köpfen der Jugendlichen, der sogenannten „Generation Y“ keine Rolle. Auch interessiert es junge Menschen nicht, ob es sich „gehört“ wählen zu gehen oder ob Engagement irgendeinem abstrakten Gemeinwohl gilt.44Hurrelmann 2014, S. 134. Stattdessen werden sie dann aktiv, wenn sie und ihr Alltag persönlich tangiert wird oder wenn sie sich persönlich mit einem gesellschaftlichen Problem identifizieren.45Schneekloth 2010, S. 151. Hurrelmann bringt es auf den Punkt: „Die Generation Y wird vor allem politisch, wenn sie selbst betroffen ist. Ausgangspunkt für Aktionen ist das eigene Leben, etwa die Einschränkung der persönlichen Freiheit und des unmittelbaren Wohlbefindens. (…) Aus diesem Motiv protestieren die Ypsiloner gegen umweltschädigende Produktionsstätten oder gegen Studiengebühren, organisieren Kaufboykotte oder Shitstorms."46Hurrelmann 2014, S. 125.  Die meisten jungen Menschen sehen ihr Leben als Projekt, welches mit allen Mitteln erfolgreich gestaltet werden muss. Dafür investieren sie mit großer Motivation in ihre Bildung und überlegen sich schon früh, wie sie ihre Startvoraussetzungen am Arbeitsmarkt verbessern können. 

Hier kann politische Beteiligung ins Spiel kommen: Junge Menschen engagieren sich, wenn es ihnen „etwas bringt“, wenn sie Kompetenzen erlernen und wertvolle Erfahrungen mitnehmen können.47Hurrelmann 2014, S. 125. Konkreter beruflicher Nutzen oder Qualifikationserwerb schlägt klar die früher so wirkmächtigen idealistischen Träume von einer „besseren Gesellschaft".48Vgl. 14. Kinder- und Jugendbericht 2013, S. 238. Neben einer Verbesserung der beruflichen Startchancen sind Jugendliche auch dann motiviert, sich politisch zu beteiligen, wenn ihre eigene Lebenssituation dadurch verbessert wird. Dabei machen Jugendliche häufig eine einfach Kosten-Nutzen-Rechnung auf: Sie „wollen sich unmittelbar einbringen, direkt etwas gestalten, dabei Spaß und Erfüllung erleben und am Ende einen Gewinn an Wohlbefinden und Selbstbewusstsein haben. In traditionellen Verbänden und gesellschaftlichen Institutionen, in Sportvereinen, Gewerkschaften, Kirchen und Parteien engagieren sie sich nur dann, wenn sie diese Kriterien erfüllt sehen und ihre Vorstellungen umsetzen können. Da das oft nicht der Fall ist, sehen sie davon ab."49Hurrelmann 2014, S. 127. Jugendliche sind angesichts unendlicher Wahlmöglichkeiten im Freizeit- und Konsumbereich bereits früh darin geübt, zu wählen und inmitten eines Überangebots an Möglichkeiten, Freizeit zu gestalten, Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen werden mit einem klaren Fokus auf die eigenen, individuellen Wünsche und Bedürfnisse gefällt. Engagement, das keine Relevanz für den eigenen, individuellen Erfolg hat, ist für die meisten Jugendlichen intuitiv unattraktiv. 

Neben diesem Pragmatismus prägt noch ein zweiter Wert das politische Handeln junger Menschen. Jugendliche haben längst verinnerlicht, dass sie sich ständig neu erfinden müssen, dass nichts in ihrem Leben auf Dauer angelegt ist, dass ihr Lebenslauf stets offen bleiben wird. Aufgrund dieser Grundbedingung des Lebens können junge Menschen wenig mit unbefristeter politischer Beteiligung anfangen. Eine auf lange Jahre angelegte aktive Mitgliedschaft in einer politischen Partei passt einfach nicht in ihr Lebenskonzept. Die Bereitschaft, sich selbst längerfristig und verbindlich zu organisieren, ist nur schwach ausgeprägt.50Schneekloth 2010, S. 151. Jugendliche lassen sich bei persönlicher Betroffenheit gerne und schnell mobilisieren, allerdings nur dann, wenn das Engagement zeitlich begrenzt bleibt. 

Unter den beiden Bedingungen „persönlicher Nutzen“ und „zeitliche Befristung“ zeigen sich Jugendliche durchaus interessiert an politischem Engagement. Politik wird für junge Menschen heute gerade dort interessant und lebendig, wo es eine Symbiose mit dem Alltag eingeht. Ideales Handlungsfeld ist hier der Konsum, bei dem die Generation Y „urpolitisch“ ist, wie Klaus Hurrelmann schreibt. Die Jugend von heute macht Politik mit der Kreditkarte.51Hurrelmann 2014, S. 129. Junge Menschen boykottieren etwa Produkte und Firmen, um schlechte Arbeitsbedingungen bei der Herstellung anzuprangern oder auf unwürdige Bedingungen der Tierhaltung hinzuweisen. Diese Form des politischen Handelns liegt jungen Menschen deshalb so nahe, weil es neben der politischen Botschaft auch einem selbst unmittelbar nützt. Nicht umsonst liegt beim politischen Konsum das größte Interesse auf Nahrungsmitteln und Kosmetik: „Je weniger ein Konsumartikel mit dem eigenen Körper zu tun hat, desto stärker sinkt die Bereitschaft, ethisch zu handeln“, so konstatiert Meike Gerhardt, Geschäftsführerin eines Internetportals für ethischen Konsum, im SPIEGEL.52Brauck 2015, S. 67 Für junge Menschen ist diese Symbiose ideal: Zum einen kann sie ihr Haltung des „Irgendwie-dagegen-Seins“ ausdrücken, zum anderen hat sie einen persönlichen Gewinn davon. Man legt sich dabei allerdings nicht langfristig fest und bleibt in gewisser Weise auf Distanz.

Politisches Engagement wird auch da für junge Menschen interessant, wenn es lokales Engagement ist. Im Gegensatz zu den großen Themen der Tagesschau-Politik ist lokales Engagement überschaubar und die Folgen unmittelbar sichtbar und erlebbar. Kleine, regionale Projekte, bei denen die unmittelbare Verbesserung des Lebens die zentrale Motivation ist – hier engagiert sich die Generation Y gerne. Ob ein Engagement für mehr E-Bikes in der Großstadt, für die Demontierung von Überwachungskameras in der Innenstadt oder für mehr Deutschkurse für Flüchtlinge: Jugendliche engagieren sich dort, wo Resultate schnell sichtbar werden und wo Strukturen vorhanden sind, welche direkte Einflussmöglichkeiten bieten. Junge Menschen nutzen im Einzelfall dabei durchaus die politischen Beteiligungsformen ihrer Eltern – etwa eine Bürgerinitiative oder eine Demonstration. Viel lieber sind sie jedoch online aktiv: Über Online-Petitionen werden Stimmen gesammelt, in sozialen Netzwerken wird sich ausgetauscht und organisiert, in Foren wie Facebook-Gruppen werden Nöte, Bedürfnisse und Probleme besprochen und diskutiert.

Jugendliche engagieren sich politisch also dort, wo es persönlichen Nutzen verspricht, zeitlich befristet ist, eine Symbiose mit dem Alltag eingeht und lokal ist: „Die Generation Y arbeitet mit einem neuen Begriff von Politik, der gestaltende Aktivitäten in den Alltag integriert und nicht an eine ausdifferenzierte gesellschaftliche Organisation namens 'politisches System' delegiert."53Hurrelmann 2014, S. 131. Erst dort, wo politische Organisation nicht mehr als Teil des „politischen Systems“ auftritt, sondern als vermittelbar mit dem Lebensstil und der Welthaltung der Jugendlichen auftritt, rückt es in den Fokus junger Menschen. 

IV. Politische Beteiligung und christliche Jugendarbeit: Zwei Welten?

4.1. Gibt es eine christliche Verantwortung zur politischen Beteiligung?

Was bedeutet das bisher gesagte für die christliche Jugendarbeit? Können Jugendmitarbeiter das Thema „Politik“ und „politische Beteiligung“ links liegen lassen oder sollte es im Alltag der Jugendarbeit eine Rolle spielen? Beantworten können wir diese Frage nur, wenn wir uns vorher darüber Gedanken machen, ob Christen überhaupt eine Verantwortung für die Gesellschaft haben. Gibt es ein Mandat für Christen, sich in die Belange der Gesellschaft einzumischen, so kann auch die christliche Jugendarbeit dies nicht ignorieren. 

Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Politik ist seit jeher umstritten.54Zu dieser Frage siehe detaillierter Holthaus 2010. Denn hinter den Begriffen „Glaube“ und „Politik“ stehen zwei Welten, die jeweils ihre Ansprüche haben. Einerseits der christliche Glaube, der geprägt und durchdrungen ist von der Hoffnung auf das Jenseits und auf das „ewige Leben“. Jesus fordert, keine Schätze auf der Erde zu sammeln. Christen sind schon auf dieser Welt „Himmelsbürger“, Teilhaber am „Reich Gottes“ und haben ihr „Heil“ im Sinn, ein Gut, dass sie erst in der „nächsten Welt“ in vollen Empfang nehmen. Andererseits leben Christen im Hier und Jetzt, in einer Welt mit sozialen und politischen Strukturen. Sie werden aufgefordert, „der Stadt bestes zu suchen.“ (Jer 29,7). Sie sind Bürger einer Welt, deren „Licht“ und „Salz“ (Mt 5,13-16) sie sein sollen.

Christen und Kirchen haben in Vergangenheit und Gegenwart diese und andere Bibelstellen unterschiedlich interpretiert. So gibt es viele Christen, die sich vorzugsweise von der Politik und „weltlichen Belangen“ fernhalten. Politik sei ein „schmutziges Geschäft“, ein Bereich, der zutiefst durchdrungen ist vom Bösen. Die Loyalität von Christen solle daher allein dem Reich Gottes gelten. Schließlich habe sich auch Jesus mit seinen Jüngern nicht politisch engagiert. Christen sollten der Obrigkeit Untertan sein und es dabei belassen. Konsequenz: „In einer heiligen Einseitigkeit konzentriert man sich auf die Gemeindearbeit und die eigene Frömmigkeit. Das Geistliche ist das Entscheidende, der Staat und damit die Rahmenbedingungen unseres Glaubens sind unwichtig, Reich Gottes ist alles, irdisches Reich ist nichts."55Holthaus 2010, S. 5. Ist diese Haltung gerechtfertigt? Oder mischt sich hier nicht vielleicht eine theologisch maskierte Politikverdrossenheit mit einer einseitigen Betonung privater Frömmigkeit?

Tatsächlich sind Glaube und Politik zwei Dinge, die es in jedem Fall zu unterscheiden gilt. Trotzdem wird bei genauer Durchschau relevanter biblischer Texte deutlich, dass das Wohl der Welt und der Menschen für Christen nicht irrelevant ist. Das beste Beispiel ist hier Jesus selbst: Er trat neben seiner hauptsächlichen Sendung als Retter der Menschheit auch als Volkslehrer auf, der sich mit den Problemen und Fragen der Menschen auseinandersetzte. Er heilte Kranke. Er zahlte Steuern und setzte sich mit den politischen Machthabern auseinander. Er speiste Arme. Heute würde man sagen: Jesus engagierte sich sowohl politisch als auch sozial. Er nahm die Bedürfnisse, Interessen und Sehnsüchte der Menschen wahr und kümmerte sich um sie. Er nahm sich als Teil der Gesellschaft wahr und handelte entsprechend. Diese Haltung von Jesus steht einer prinzipiellen Gleichgültigkeit oder Resignation mancher heutiger Christen entgegen. Jesus war diese Welt nicht egal. Er predigte das Evangelium, wies den Weg zurück zu Gott, wurde selbst der Erlöser der Welt. Aber er setzte sich auch konkret für andere Menschen ein und hielt diesen Einsatz nicht für irrelevant oder sinnlos. 

In der heutigen demokratischen und pluralistischen Gesellschaft ist ein solcher Einsatz nicht nur möglich, sondern von politischer und öffentlicher Seite sogar erwünscht. Christen haben die Möglichkeit, sich für ihre Werte, Positionen, Interessen und Wünsche einzusetzen – und zwar über die Wahlbeteiligung hinaus. Das Engagement in einer Partei oder Gewerkschaft, die Mitarbeit in der lokalen Bürgerinitiative, das Unterzeichnen einer Online-Petition, das Engagement für Flüchtlinge, Kaufboykotte: Auch für Christen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten, ihre Werte und Interessen in den öffentlichen Raum einzubringen und dort ihre Stimme zu erheben. 

4.2. Möglichkeiten politischer Beteiligung für die christliche Jugendarbeit

Wenn Christen sich politisch engagieren sollen, was bedeutet dies für die Praxis christlicher Jungendarbeit? Wie kann politisches Engagement im Rahmen der Jugendarbeit aussehen? 

Grundlage für jedes politisches Engagement ist die Reflexion politischer und gesellschaftlicher Prozesse. Die Jugendgruppe kann ein Ort sein, an welchem politische, soziale oder gesellschaftliche Belange und Probleme zur Sprache kommen. Eine Diskussion etwa über das Flüchtlingsphänomen kann dazu führen, dass Jugendliche sich zum ersten Mal mit einem solchen Thema beschäftigen und merken, dass es durchaus etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Gleichzeitig können auch Diskussionen über die neusten viralen Social-Media-Phänomene stattfinden wie zum Beispiel die im Sommer 2014 populär gewordene „ALS Ice-Bucket-Challenge“. Ziel solcher „Reflexionsrunden“ ist insbesondere die Förderung von eigenständigem Denken und Handeln der Jugendlichen. Es geht darum, eigenständige Positionen und Wertvorstellungen junger Menschen zu stärken und offen mit ihnen darüber zu diskutieren.

Auch wenn Jugendliche heute „anders politisch“ sind (vgl. Kapitel 3.4), bedeutet dies nicht, dass traditionelle Parteien und Verbände für Jugendliche prinzipiell uninteressant sind. Nur scheint der Graben zwischen den Aktivitäten von Parteien und Verbänden und der Lebenswelt Jugendlicher schwierig zu überbrücken. Um den Graben zu schließen, braucht es von Seiten der Jugendmitarbeiter möglicherweise nur etwas Initiative dahingehend, die örtlichen Vorsitzenden der Jugendorganisationen diverser Parteien für einen Informationsabend einzuladen. Merken Jugendliche, dass es sich bei (Jung-)Politikern um Menschen aus Fleisch und Blut und vielleicht mit ähnlichen Interessen handelt, ist der Graben schon halb überbrückt.

Diskutieren und informieren ist sicherlich wichtig, genügt jedoch nicht für politisches Engagement. Jugendliche können mit der Tagesschau-Politik wenig anfangen, zeigen aber dort an politischem Engagement Interesse, wo es einen persönlichen Nutzen verspricht, zeitlich befristet ist, eine Symbiose mit dem Alltag eingeht und es sich am besten um ein lokales Projekt handelt. Wenn Mitarbeiter in der Jugendarbeit also darüber nachdenken, auf welche Art und Weise die Jugendgruppe politisch aktiv werden könnte, dann gilt es nach Formen zu suchen, die diesen Bedingungen entsprechen. 

Eine praktische Möglichkeit für politisches Engagement bietet die derzeitige Flüchtlingsproblematik in Deutschland. Beinahe jede größere (und viele kleine Städte) nehmen derzeit Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, Afrika oder dem Balkan auf. Viele dieser Menschen haben eine lange, anstrengende und traumatisierende Flucht hinter sich und suchen nach einem sicheren Ort zum Leben. Eine große Anzahl der Flüchtlinge sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ohne ihr einstmaliges soziales Umfeld stoßen sie am Ende ihrer Flucht auf eine völlig fremde Kultur. In Deutschland werden sie in meist überfüllte Erstaufnahmelager gebracht, später dann auf sogenannte „Clearinggruppen“ verteilt, wo sie die Entscheidung abwarten, ob sie vorerst in Deutschland bleiben dürfen. 

In dieser Lage brauchen insbesondere junge Flüchtlinge Hilfe bei kulturellen und sprachlichen Herausforderungen. Die jungen Flüchtlinge kommen meist aus kulturellen Räumen mit ganz anderen Normen und Wertvorstellungen. Desweiteren sprechen die meisten Flüchtlinge kein Wort Deutsch, wenn sie nach Deutschland einreisen. Die Behörden und Einrichtungen sind häufig auf Grund der hohen Flüchtlingszahlen schlicht damit überfordert, den Jugendlichen die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen. Hier gibt es viele Möglichkeiten für christliche Jugendgruppen, aktiv zu werden: Die meisten Einrichtungen sind froh über Freiwillige, welche die Flüchtlinge bei dem Erlernen der Sprache unterstützen, mit ihnen Einkaufen gehen, ihnen die Stadt zeigen, gemeinsam zu Kochen oder mit ihnen Sport machen. Je nach Absprache mit den zuständigen Einrichtungen können christliche Jugendgruppen so einen konkreten Beitrag zum Wohl der Flüchtlinge leisten. Gleichzeitig senden christliche Jugendgruppen so auch eine politische Nachricht: Hilfsbedürftige Menschen, Vertriebene und Flüchtlinge, gilt es zu schützen! Der bereits im Alten Testament verankerte Schutz des Fremden und Benachteiligten (Lev 19,33f) kann hier praktisch in die Tat umgesetzt werden. Jugendliche können so erleben, wie erfüllend es sein kann, etwas praktisch zu bewegen und die Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen und Werten konkret zu beeinflussen.

Das Engagement für Flüchtlinge ist eine Möglichkeit der politischen Beteiligung. Vielleicht gibt es im Umkreis der Jugendgruppe keine Flüchtlingsunterkünfte oder als Jugendmitarbeiter werden andere politische Projekte als wichtiger erachtet. Entscheidend ist: Christliche Jugendarbeit hat in einer Welt mit vielen gesellschaftlichen Herausforderungen unzählige Möglichkeiten, „Licht und Salz“ zu sein. Sich um das Wohl der Welt zu sorgen bedeutet daher, sich praktisch zu engagieren und mit einem kleinen, vielleicht unscheinbar wirkenden Projekt zu beginnen.

Markus Karstädter

Endnoten

  • 1
    Vgl. Rosa 2014 oder Rosa 2015.
  • 2
    Und natürlich auch gesellschaftliche Gruppen und Institutionen.
  • 3
    Steinbrecher 2009, S. 15.
  • 4
    De Nève 2013, S. 14.
  • 5
    Im Folgenden konzentrieren wir uns konsequent auf politische Beteiligungsformen und ignorieren den großen Bereich der sozialen Beteiligung. Soziales Engagement ist eine Form der Beteiligung, die insbesondere soziale Integration und Unterstützung zum Ziel hat und nicht – wie im Fall der politischen Beteiligung – die Beeinflussung politischer Entscheidungen. Vgl. dazu den Stand der fachlichen Diskussion bei Steinbrecher 2009, S. 27-29.
  • 6
    De Nève 2013, S. 11.
  • 7
    14. Kinder- und Jugendbericht 2013, S. 227.
  • 8
    Vgl. Steinbrecher 2009, S. 29.
  • 9
    Rosa 2014.
  • 10
    Vgl. Davy 2013, S. 7f.
  • 11
    Nida-Rümelin 2013, S. 25.
  • 12
    Vgl. Rosa 2015.
  • 13
    Rosa 2012, S. 358.
  • 14
    Rosa 2015b.
  • 15
    Vgl. Rosa 2015b.
  • 16
    Vgl. Newsletter Leistungsdruck.
  • 17
    Rosa 2012, S. 364.
  • 18
    Rosa 2012, S. 365.
  • 19
    Rosa 2012, S. 368.
  • 20
    Brunkhorst 2013, S. 55.
  • 21
    Rosa 2012, S. 371.
  • 22
    Vgl. Habermas 2013, S. 143.
  • 23
    Rosa 2012, S. 369.
  • 24
    Rosa 2012, S. 369.
  • 25
    Rosa 2015a.
  • 26
    Hurrelmann 2012, S. 28.
  • 27
    Hurrelmann 2012, S. 202.
  • 28
    Vgl. Hurrelmann 2014, S. 118.
  • 29
    Rauschenbach 2012, S. 137.
  • 30
    Schneekloth 2010, S. 129.
  • 31
    Heinzlmaier 2013, S. 120.
  • 32
    Zum folgenden Schneekloth 2010, S. 136-142.
  • 33
    Skala von 1 = sehr wenig Vertrauen bis 5 = sehr viel Vertrauen.
  • 34
    Zum folgenden Schneekloth 2010, S. 142-151.
  • 35
    Hurrelmann 2014, S. 132.
  • 36
    Böhm-Kasper 2006, S. 74.
  • 37
    Calmbach 2011, S. 74.
  • 38
    Calmbach 2011, S. 73f.
  • 39
    Gaiser 2013, S. 13.
  • 40
    Calmbach 2011, S. 72.
  • 41
    Hurrelmann 2014, S. 133.
  • 42
    Hurrelmann 2014, S. 122.
  • 43
    Calmbach 2011, S. 74.
  • 44
    Hurrelmann 2014, S. 134.
  • 45
    Schneekloth 2010, S. 151.
  • 46
    Hurrelmann 2014, S. 125. 
  • 47
    Hurrelmann 2014, S. 125.
  • 48
    Vgl. 14. Kinder- und Jugendbericht 2013, S. 238.
  • 49
    Hurrelmann 2014, S. 127.
  • 50
    Schneekloth 2010, S. 151.
  • 51
    Hurrelmann 2014, S. 129.
  • 52
    Brauck 2015, S. 67
  • 53
    Hurrelmann 2014, S. 131.
  • 54
    Zu dieser Frage siehe detaillierter Holthaus 2010.
  • 55
    Holthaus 2010, S. 5.

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